Handbuch Popularmusik

Popularmusikalisches Lehrmaterial mit Kirchenbezug gibt es nicht wie Sand am Meer. Bisher war, übrigens ebenfalls im Strube Verlag, nur Hartmut Naumanns und Michael Henkels „get the groove“ am Markt, das sich allerdings ganz an der C-Ausbildung in Nordelbien orientiert. Nun also veröffentlicht Michael Schütz das „Handbuch Popularmusik“ zusammen mit den Autoren André Engelbrecht, Gerhard Raichle, Matthias Becker, Manfred l. Pirner, Jochen Arnold und Hans-Joachim Eißler. Und, um es vorweg zu nehmen, es ist Ihnen damit gelungen den popmusikalisch Interessierten in den Kirchen ein Standardwerk an die Hand zu geben, das den Bereich Aus- und Fortbildung qualitativ weit nach vorne bringen dürfte.

Dabei ist Michael Schütz eines klar: „Popularmusik vollständig zu erfassen, dann ein Regelwerk zu erstellen und schriftlich zu fixieren, ist ein paradoxes Unternehmen. Es gibt kein „richtig“ und kein „falsch“, alles ist möglich.“ Dies aus dem Mund eines anerkannten und diplomierten Kirchenmusikers zu erfahren ist Balsam für die Seele in kirchlichen Kreisen engagierter Popularmusiker. Sollte sich diese Erkenntnis in der etablierten Kirchenmusik herumsprechen, wäre zumindest zu hoffen, dass sich viel unsinniger Streit damit endgültig erledigt. Wenn zusätzlich begriffen wird, das es sich bei „Pop, Rock und Jazz um einen nur individuell zu begreifenden Moment originären Tuns im Sinne einer unmittelbaren Lebensäußerung“ handelt, der eine „improvisatorisch-kommunikative Exponierung des Phänomens feeling“ ist, dann müsste auch dem letzten Hardliner dämmern, das (auch) kirchliche Popularmusik nicht gemessen werden kann an einem, wie immer, definierten Kunstwerkbegriff. Michael Schütz und seinen Mitautoren wäre zu danken.

Auf den dann folgenden 300 Seiten, nebst zwei CD´s, die speziell dem Bereich Stilkunde gewidmet sind, beschäftigen sie die Autoren dann ausschließlich mit Grundlagen der Popularmusik unter den Rubriken „Geschichte“, „Stilkunde“, „Instrumentenkunde“, „Harmonik“, „Rhythmik“, „Arrangement“, „Chorarbeit“ und „Grundlagen der Beschallungstechnik“. In einem umfangreichen Exkurs (ca. 30 Seiten) zum Thema „Popularmusik im Kontext der Kirche“ geht es außerdem um „Theologisch-ästhetische Aspekte der populären Musik“, „Popularmusik im Gottesdienst – theologische Voraussetzungen und praktische Überlegungen“, sowie „Popularmusik in der Gemeinde – Provokation oder neue Dimension“. Ergänzt wird das ganze durch ein Minilexikon.

Geschichte

Im ersten Kapitel des Handbuchs führt Herausgeber Michael Schütz den Leser auf über 20 Seiten durch die Geschichte der Popularmusik. Eine Herausforderung, denn mit der Geschichte eines Genre, das eine derartige Vielfalt an unterschiedlichsten Musikstilen hervorgebracht hat, könnte man locker das ganze Buch füllen. Sehr interessant war für mich der Einstieg, der bis ins 16. Jahrhundert zurückgeht und Wurzeln der Popmusik wie lateinamerikanische und afrikanische Musik beleuchtet. Sehr gut ist, dass hier, wie in den folgenden Abschnitte, die z.B. von Ragtime, Jazz, Blues, Rock und Pop handeln, der soziale Aspekt immer klar herausgearbeitet wird. Nur so kann man einzelne Stile und ihre Bedeutung als Stil, wie auch als Musik einer bestimmten Generation richtig verstehen. Der Autor benennt in den einzelnen Überkategorien, wie z.B. Rock sehr viele Stile und bringt deren Besonderheiten mit wenigen Sätzen auf den Punkt. Nur die Bereichen Ethno und elektronisch beeinflusste Popmusik sind sehr knapp gehalten, was aber angesichts der Kürze des gesamten Kapitels in Ordnung ist. Das Kapitel endet mit einer Tabelle welche die Geschichte der Popmusik auf einer Zeitachse darstellt. Am besten auf A3 kopieren und ins Musikzimmer hängen.

Stilkunde

Die Stilkunde ist im Lexikonstil gehalten. 26 verschiedene Stile werden vorgestellt. Zu jedem Stil gibt es eine kurze Info über Herkunft, Interpreten, stiltypische Merkmale wie z.B. bestimmte Spieltechniken, Stimmung, Besetzung, Mikrotime (binär, ternär etc.) und, was ich besonders gelungen finde: stiltypische Harmoniefolgen. Dazu jeweils ein notiertes Beispiel das für eine klassische Bandbesetzung mit Gitarre, Keys, Bass und Drums arrangiert ist. Alle Beispiele bringen die typischen Merkmale des jeweiligen Stils auf den Punkt und können auf der beiliegenden CD1 angehört werden. Die CD ist gut produziert und das Anhören der Beispiele macht Spaß. Im Anhang des Kapitels finden sich 95 ausnotierte Pianobegleitstyles in unterschiedlichen Stilen. Alle Patterns können auf CD 2 angehört werden. Super!!

Instrumentenkunde

Inzwischen befinden wir uns auf Seite 89 des Werkes. Auf gut 20 Seiten werden dem Leser nun wichtige Grundlagen über eine Vielzahl von Instrumenten vermittelt. Der ambitionierte Arrangeur findet alles, was er über ein Instrument wissen muss: Bauweisen, Stimmung, Stimmumfang, Notation, instrumententypische Spielweisen und Klangeffekte und – ganz wichtig für den Bandfrieden – Unspielbares auf einem Instrument. Zahlreiche Abbildungen und Notenbeispiele helfen dem Leser, sich schnell einen Überblick über ein Instrument zu verschaffen. Neben der klassischen Bandbesetzung sind im gleichen Umfang auch Percussioninstrumente, Holz- und Blechbläser sowie Streicher beschrieben. Sehr gut, denn auch Orchesterinstrumente kommen in der Popmusik immer wieder vor. Außerdem stehen Bandleiter in Gemeinden gelegentlich vor der Herausforderung für eher untypische Besetzungen arrangieren zu müssen. Einzig der Abschnitt über Gesang hätte meines Erachtens ausführlicher sein können. Schließlich kommt dem Gesang im Pop eine besondere Bedeutung zu. Ein paar Tipps zur Technik (Gitarrenverstärker, Bassverstärker, Mikrophonhaltung beim Gesang) würden das Kapitel abrunden und gute Tipps für den Bandleiteralltag liefern. Allerdings wird dieses Thema im Bereich Chor und Technik erneut aufgegriffen und qualitativ gut behandelt.

Harmonik

Auch das Kapitel über Harmonik ist sehr auf den Punkt gebracht und beleuchtet alle wichtigen Themen der Pop/Jazz Harmonielehre. Es ist wirklich erstaunlich: Das Kapitel ist vom Umfang sehr kompakt, lässt aber dennoch nichts aus. So findet der Leser neben wichtigen Infos zu Akkordsymbolen, Akkordaufbau, Dur- und Molltonleitern und Kadenzen auch Informationen zu verschiedenen Konzepten der Improvisation und zur Reharmonisation. Durch kompakte und übersichtliche Darstellung bekommt man einen guten Überblick über die einzelnen Bereiche der Harmonielehre und lernt wichtige Zusammenhänge zu verstehen. Eine Vertiefung des Wissens, z.B. mit einer Harmonielehre sollte nach dem Studium dieses Kapitels viel leichter fallen.

Rhythmik

In der Popmusik gilt der Satz „lieber eine falsche Note zur richtigen Zeit, als eine richtige Note zur falschen Zeit“, denn Rhythmus und Groove sind im Pop das A und O. Es verwundert anfangs, wie knapp das Kapitel gehalten ist. Nach einem Abschnitt mit Grundlagen wie Tempo, Taktart, Mikrostruktur, Groove, Rhythmuspyramide und der Kunst Rhythmen gut lesbar zu notieren (proportionierte Notation) geht es im folgenden Abschnitt „zur Sache“ . Mit einer Einführung in das Konzept der rhythmischen Akzentverschiebung lernt der Leser, wie man im Pop zu eigenen rhythmischen Patterns, Riffs etc. kommt. Die schlüssig gegliederten Beispiele sind gute Rhythmusübungen und regen zum kreativen Ausprobieren an. Abgerundet wird der Abschnitt durch Beispiele, wie das Konzept am Instrument anzuwenden ist. Eine umfangreiche Sammlung von Rhythmuspatterns aus unterschiedlichen Stilen schließt das Kapitel ab.

Arrangement

Auch das Kapitel zum Thema Arrangement beeindruckt durch seine Kompaktheit und die hervorragend strukturierte Fülle an Informationen. Der erste Abschnitt widmet sich Rahmenbedingungen eines Arrangements, wie z.B der Besetzung, Rahmen der Aufführung, Tonart u.v.m. Im Weiteren werden Liedformen/Songteile und wichtige Tools für den Arrangeur, wie z.B. Arrangierzeichen und Artikulationszeichen besprochen. Im Folgenden werden verschiedene Arrangiertechniken vorgestellt. Der Leser lernt Basics aus Stimmführung, Satztechnik, Motivik und Harmonik kennen. Besonders hervorheben, möchte ich den Abschnitt zur Rhythmik in denen Begleitechniken wie Halftime, Doubletime und sogar die Ghoststrockes beim Schlagzeug erklärt werden. Somit ist auch dieses Kapitel als absolut gelungen und in seinem Informationsgehalt unübertroffen zu bezeichnen.

Chorarbeit

Kurz, knapp und klar, so könnte man Matthias Beckers Kapitel Chorarbeit umreißen. Alle wichtigen und notwendigen Grundlagen vermittelt der Autor kompetent und ohne Attitüde „nur so ist es richtig“. Geradezu wohltuend seine Einlassung im Bereich „Voraussetzungen bei Chor und Chorleiter“ für angehende Chorleiter: „Stilsicherheit kann sich der Interessierte daher erst „über das Ohr“, die Rezeption, und das eigene Tun erwerben“. Würde Chorarbeit (auch in klassischen) Chören so begriffen wäre auch hier bei manchem Streit die Luft raus. Präzise und klar die (Kurz)anweisungen zu allen relevanten Fragen wie Stimmbildung, Probenmethodik, Chorliteratur und englische Aussprache, um nur einige zu nennen. Die Themen werden auf das Wichtigste reduziert dargestellt. Wer intensiver einsteigen will findet genügend Hinweise auf umfangreiches Ergänzungsmaterial. So wird ein Grundlagenkapitel zum Genuss.

Grundlagen der Beschallungstechnik

Wer selbst schon mal in einem Technikseminar saß, weiß, wie schnell sich im Hirn ein bedrohliches Knotengewirr bildet. Diesem Gewirr wird hier mit der Reduzierung auf´s Wesentliche vorgebeugt. Und auch das gelingt genau wie im vorherigen Kapitel überzeugend. Neben einer kurzen Einführung in die Theorie der Signalabnahme, -wandlung, -verstärkung, -bearbeitung und –abgabe, gibt es im Praxisteil Tips zu Anlagenaufbau und Einstellen und zur Stimm- und Instrumentenabnahme. Ein straffer FAQ Teil bringt die häufigsten Fragen auf den Punkt. Geerdet wird das Ganze auch hier durch den Verweis darauf, dass ein gutes Ergebnis natürlich nur mit jahrelanger Erfahrung, persönlich-musikalischer Kompetenz und entsprechender Fortbildung erreicht werden kann.

Popularmusik im Kontext der Kirche

Hinter diesem etwas über 30seitigen Exkurs verbergen sich 3 Artikel unterschiedlicher Autoren, die, ausgehend von grundsätzlich theologisch-ästhetischen Aspekten über den Einsatz von Popularmusik im Gottesdienst bis hin zur ewig alten Frage nach Provokation oder neuer Dimension alle wesentlichen Fragen im Zusammenhang mit Popularmusik und Kirche aufgreift. Auffällig bei allen Artikeln ist die zwar nicht explizit ausgesprochene, jedoch immer wieder augenfällige Linie aller Autoren, dass ihre Aussagen für Musik grundsätzlich gelten. Jede Art der Musik muss sich etwa der Frage der „Humanitas“ stellen, will heißen: inwieweit befördert sie die Humanität des Menschen, und im Kontext religiösen Gebrauchs, wie kann Musik ihrer „religiös – transzendenten Dimensionen“ gerecht werden. Das Popularmusik gerade durch ihre Spontanität, das ihr anhaftende Improvisatorische, das sich über einer konkreten musikalischen Ordnung vollzieht, in ganz besonderer Weise zum Wesen und Wirken des Heiligen Geistes passt und damit in der abendländischen Geschichte verschüttete archaische musikalische Bereiche wie Rhythmus und Bewegung wieder freilegt, ist dabei, um mit einem popmusikalischen Begriff zu arbeiten, ihre Eintrittskarte in die Kirche. Jede Diskussion um ihre Existenzberechtigung im kirchlichen Kontext müsste danach eigentlich verstummen. Insofern darf sich die Frage nach der Provokation gar nicht mehr stellen. Gefragt ist eine ernsthafte Auseinandersetzung nach der notwendigen (und im Grunde eben nicht mehr neuen) Dimension von Popularmusik in unseren Kirchen.

 

Am Schluß dieser Ausführungen steht ein knappes , aber klares Fazit: Dieses Handbuch gehört als Arbeitsbuch in den Bücherschrank jedes Musikers (egal ob Laien-, Semiprofessioneller-, Profi-, Kirchen-, oder sonstiger –musiker mit kirchlichem Bezug). Der Verband für christliche Popularmusik in Bayern ist so überzeugt von dieser Veröffentlichung, dass er es zukünftig als Standardwerk für seine D-Kurse nutzen wird.

 

Michael Ende / Thomas Nowack